Aufgelesen: Thomas Meinecke: Feldforschung
Wenn der Bauer zur Dame wird
Wenn der Bauer es beim Schach bis ins achte Feld schafft, verwandelt er sich automatisch in die zuvor geschlagene Dame und ist für weitere Züge schlagkräftiger gewappnet. Angelehnt an dieses Phänomen des Geschlechtswandels fand in Köln Ende 2006 die Ausstellung "Das achte Feld" statt, die sich mit künstlerischen Positionen zum Themenkomplex Gender (dem "sozialen" Geschlecht) und Sex (dem biologischen Geschlecht) beschäftigte. Der Münchner Schriftsteller Thomas Meinecke verweilte noch etwas länger im achten Feld und betrieb dort eine "Feldforschung".
Das soziale Geschlecht
Unter diesem Titel präsentiert er in seinem neuen Buch elf Erzählungen, die alle auf einem wahren Ereignis, einem Gerücht oder einer Beobachtung aus dem weiten Feld der Populärkultur und der Medien basieren. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass sie mit den Themen Sex, Gender und Homosexualität und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu tun haben. Es geht also vor allem um die schon über 30 Jahre alte Entdeckung, dass es nicht nur ein biologisches Geschlecht, sondern auch ein soziales, gesellschaftlich konstruiertes gibt.
Doch während sich sonst vor allem Wissenschaftler/innen in theoretischer Form an dem Thema abarbeiten, richtet Meinecke seinen literarischen Blick auf den Alltag. Viele der Geschichten wären sicherlich an uns vorbeigegangen, wenn Meinecke sie nicht zu Fundstücken mit Seltenheitswert erklärt und sie unter sein Mikroskop gelegt hätte. Dabei verdreht er die Attribute "weiblich" und "männlich" und stellt in Frage, was lange als "normal" galt: nämlich Heterosexualität.
Sich eine sexuelle Identität basteln
Ist es denn "normal", wenn der Schauspieler Richard Gere und das Model Cindy Crawford Anfang der 1990er-Jahre für 30.000 Dollar eine ganzseitige Anzeige in der London Times schalten, um zu bekennen, dass sie beide heterosexuell, monogam und "sehr miteinander verheiratet" seien? Befürchteten Gere und Crawford einen Karriereknick – weil doch mehr dran war an den Gerüchten, als die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt ahnte? Und was bedeutet das für bekennende lesbische Models oder schwule Schauspieler, wenn sich Promis als heterosexuell outen – und sich dabei Mechanismen bedienen, die die queere Community zuvor mühselig erarbeitet hat? So eine öffentliche Bekanntmachung, suggeriert Meinecke, sagt doch eher etwas darüber aus, wie sehr Gere und Crawford ihre Geschlechterrollen angenommen haben und gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen ausspielen.
Und wie ist das eigentlich zu verstehen, wenn Mae West Theaterstücke mit Titeln wie "Sex" oder "The Drag" veröffentlicht? Die berühmte – heterosexuelle – Hollywood-Diva der 1920er-Jahre setzte sich für Schwule und schwule Themen ein; sie nahm dafür sogar einige Wochen Gefängnis auf sich. Konstruierte Mae West so ihre eigene Geschlechterrolle – und zementierte ganz nebenbei ihre Karriere – während sie fest auf eine schwule (und teilweise lesbische) Fangemeinde bauen konnte?
Und warum ist es dann andererseits noch heute so überraschend, wenn konstruierte Identitäten auffliegen? Die Süddeutsche Zeitung berichtete im Februar 2006, dass der 25-jährige amerikanische Nachwuchsautor J.T. LeRoy eine Erfindung der unter ihrem wahren Namen wenig erfolgreichen Schriftstellerin Laura Albert war. Das Interessante daran ist, dass gerade diese Zeitung Albert davor gehörig auf den Leim gegangen war. Im jetzt-Magazin wurde nämlich ausführlich über LeRoys außergewöhnliches Leben berichtet. Als Kind einer Prostituierten war er selbst früh Stricher und hatte dann im Jahr 2000 mit dem halb-autobiografischen Roman "Sarah" einen verblüffenden Erfolg, der sogar verfilmt wurde. Die erfolgreiche Inszenierung dieser Identität wurde durch die Schauspielerin Winona Ryder untermauert, die öffentlich bekannt gab, sie treffe LeRoy regelmäßig und sei in den 25-Jährigen vernarrt, wenn nicht sogar verliebt.
Ist es also wirklich einfacher, ein hübsches, junges Mädchen zu sein? Die Geschichte von Laura Albert beweist: nein, ist es nicht. Nicht, wenn hübsch und jung normal ist. Normal ist langweilig. Für eine Karriere als Schriftsteller/in jedenfalls.
Anwalt für Geschlechterthemen
Ganz kompliziert wird es allerdings, wenn in der Erzählung "Kings & Queens" Forenuser/innen eine Bezeichnung für Frauen suchen, die über Kleidung, Verhalten und Auftreten versuchen, als Transvestiten wahrgenommen zu werden. Denn hier greift keine der gängigen Bezeichnungen mehr. Das Beste wäre wohl, diesen Typus unter dem freieren Begriff "Gender-Bender" zusammenzufassen: Leute jeglichen biologischen Geschlechts, die auf verschiedene Arten versuchen, die herkömmlichen gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechternormen zu brechen, damit Identitäten zu hinterfragen und neue zu schaffen. Ein durch und durch politischer Akt, der darauf abzielt, der Gesellschaft ihre eigene Maske vorzuhalten und die Individuen in ihrer Vielfalt zu zeigen, die die "Gesellschaft" ja letztendlich ausmacht.
"Feldforschung" ist nicht Meineckes erstes Buch, das mit so einem Sampling von Geschichten, Ideen und Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart plus eigener Phantasie arbeitet. Diese Methode ist typisch für das gesamte literarische Werk des 51-jährigen Theorie-Virtuosen. Schon mit den Romanen "Tomboy" (1998) und "Musik" (2004) hat sich Meinecke als "Gender-Bender" der Literatur und Anwalt für Geschlechterthemen erwiesen. "Feldforschung" aber ist noch besser, weil man als Leser/in elf Mal neu ansetzen kann, ins achte Feld zu springen, und das sogar teilweise in Englisch. Aber es gibt ja auch nicht nur eine Form von Lieben und Begehren: Das Leben ist ein weites, buntes Feld – eben queer.
Thomas Meinecke: Feldforschung. Suhrkamp 2006, 8.50 €
Dieser Artikel erschien zuerst am 23.01.2007 auf fluter.de.
Wenn der Bauer es beim Schach bis ins achte Feld schafft, verwandelt er sich automatisch in die zuvor geschlagene Dame und ist für weitere Züge schlagkräftiger gewappnet. Angelehnt an dieses Phänomen des Geschlechtswandels fand in Köln Ende 2006 die Ausstellung "Das achte Feld" statt, die sich mit künstlerischen Positionen zum Themenkomplex Gender (dem "sozialen" Geschlecht) und Sex (dem biologischen Geschlecht) beschäftigte. Der Münchner Schriftsteller Thomas Meinecke verweilte noch etwas länger im achten Feld und betrieb dort eine "Feldforschung".
Das soziale Geschlecht
Unter diesem Titel präsentiert er in seinem neuen Buch elf Erzählungen, die alle auf einem wahren Ereignis, einem Gerücht oder einer Beobachtung aus dem weiten Feld der Populärkultur und der Medien basieren. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass sie mit den Themen Sex, Gender und Homosexualität und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu tun haben. Es geht also vor allem um die schon über 30 Jahre alte Entdeckung, dass es nicht nur ein biologisches Geschlecht, sondern auch ein soziales, gesellschaftlich konstruiertes gibt.
Doch während sich sonst vor allem Wissenschaftler/innen in theoretischer Form an dem Thema abarbeiten, richtet Meinecke seinen literarischen Blick auf den Alltag. Viele der Geschichten wären sicherlich an uns vorbeigegangen, wenn Meinecke sie nicht zu Fundstücken mit Seltenheitswert erklärt und sie unter sein Mikroskop gelegt hätte. Dabei verdreht er die Attribute "weiblich" und "männlich" und stellt in Frage, was lange als "normal" galt: nämlich Heterosexualität.
Sich eine sexuelle Identität basteln
Ist es denn "normal", wenn der Schauspieler Richard Gere und das Model Cindy Crawford Anfang der 1990er-Jahre für 30.000 Dollar eine ganzseitige Anzeige in der London Times schalten, um zu bekennen, dass sie beide heterosexuell, monogam und "sehr miteinander verheiratet" seien? Befürchteten Gere und Crawford einen Karriereknick – weil doch mehr dran war an den Gerüchten, als die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt ahnte? Und was bedeutet das für bekennende lesbische Models oder schwule Schauspieler, wenn sich Promis als heterosexuell outen – und sich dabei Mechanismen bedienen, die die queere Community zuvor mühselig erarbeitet hat? So eine öffentliche Bekanntmachung, suggeriert Meinecke, sagt doch eher etwas darüber aus, wie sehr Gere und Crawford ihre Geschlechterrollen angenommen haben und gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen ausspielen.

Und warum ist es dann andererseits noch heute so überraschend, wenn konstruierte Identitäten auffliegen? Die Süddeutsche Zeitung berichtete im Februar 2006, dass der 25-jährige amerikanische Nachwuchsautor J.T. LeRoy eine Erfindung der unter ihrem wahren Namen wenig erfolgreichen Schriftstellerin Laura Albert war. Das Interessante daran ist, dass gerade diese Zeitung Albert davor gehörig auf den Leim gegangen war. Im jetzt-Magazin wurde nämlich ausführlich über LeRoys außergewöhnliches Leben berichtet. Als Kind einer Prostituierten war er selbst früh Stricher und hatte dann im Jahr 2000 mit dem halb-autobiografischen Roman "Sarah" einen verblüffenden Erfolg, der sogar verfilmt wurde. Die erfolgreiche Inszenierung dieser Identität wurde durch die Schauspielerin Winona Ryder untermauert, die öffentlich bekannt gab, sie treffe LeRoy regelmäßig und sei in den 25-Jährigen vernarrt, wenn nicht sogar verliebt.
Ist es also wirklich einfacher, ein hübsches, junges Mädchen zu sein? Die Geschichte von Laura Albert beweist: nein, ist es nicht. Nicht, wenn hübsch und jung normal ist. Normal ist langweilig. Für eine Karriere als Schriftsteller/in jedenfalls.
Anwalt für Geschlechterthemen
Ganz kompliziert wird es allerdings, wenn in der Erzählung "Kings & Queens" Forenuser/innen eine Bezeichnung für Frauen suchen, die über Kleidung, Verhalten und Auftreten versuchen, als Transvestiten wahrgenommen zu werden. Denn hier greift keine der gängigen Bezeichnungen mehr. Das Beste wäre wohl, diesen Typus unter dem freieren Begriff "Gender-Bender" zusammenzufassen: Leute jeglichen biologischen Geschlechts, die auf verschiedene Arten versuchen, die herkömmlichen gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechternormen zu brechen, damit Identitäten zu hinterfragen und neue zu schaffen. Ein durch und durch politischer Akt, der darauf abzielt, der Gesellschaft ihre eigene Maske vorzuhalten und die Individuen in ihrer Vielfalt zu zeigen, die die "Gesellschaft" ja letztendlich ausmacht.
"Feldforschung" ist nicht Meineckes erstes Buch, das mit so einem Sampling von Geschichten, Ideen und Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart plus eigener Phantasie arbeitet. Diese Methode ist typisch für das gesamte literarische Werk des 51-jährigen Theorie-Virtuosen. Schon mit den Romanen "Tomboy" (1998) und "Musik" (2004) hat sich Meinecke als "Gender-Bender" der Literatur und Anwalt für Geschlechterthemen erwiesen. "Feldforschung" aber ist noch besser, weil man als Leser/in elf Mal neu ansetzen kann, ins achte Feld zu springen, und das sogar teilweise in Englisch. Aber es gibt ja auch nicht nur eine Form von Lieben und Begehren: Das Leben ist ein weites, buntes Feld – eben queer.
Thomas Meinecke: Feldforschung. Suhrkamp 2006, 8.50 €
Dieser Artikel erschien zuerst am 23.01.2007 auf fluter.de.
newreads - 27. Feb, 18:48