Politisches

aufgelesen: rajaa alsanea: die girls von riad

Saudi-Arabien, das heißt, zwischen Palmen und architektonischen Wundern einen Ausflug zum Roten Meer machen – durch ein gut ausgebautes Netz an Autobahnen, finanziert durch den weltweit größten Rohölexport.

Saudi-Arabien, das heißt, mit den Städten Medina und Mekka gleichzeitig Mutterland und Zentrum des Islam zu sein. Aber all das heißt auch: tausend Konfliktpotenziale. Saudi-Arabien ist trotz eines mehr und mehr pro-westlichen Kurses der Königsfamilie noch immer eine strenge, absolute Monarchie mit dem Islam als Staatsreligion, der alle Bereiche des privaten wie öffentlichen Lebens regelt. Das Königreich basiert auf einer Verfassung, mit der bis heute Schwule, Lesben, Ehebrecher, Gotteslästerer und Hochverräter hingerichtet werden können. Aus Saudi-Arabien kommen Top-Terroristen, auch Usama Bin Laden. Und was nicht durch die Religion geregelt wird, regeln Reichtum und Wohlstand: Zwar würde die internationale Ausbildung der meisten Saudis eine gewisse Weltoffenheit vermuten lassen. Diese zeigt sich aber nur in geringem Maße: Vom kostenlosen Sozialsystem können die zahlreichen Gastarbeiter, ohne die Saudi-Arabien gar nicht mehr auskommen könnte, nicht profitieren.

Man könnte noch viel mehr aufführen, was das Leben in diesem Staat zwiespältig macht. Am schlimmsten steht es aber wohl mit der Rolle der Frau in Saudi-Arabien. Amnesty International spricht hier angesichts von arrangierten Hochzeiten, Wahl- und Fahrverbot für Frauen und dem Verbot, sich in der Öffentlichkeit mit nicht-verwandten Männern zu zeigen, von Degradierung zu „Menschen zweiter Klasse“. Umso erstaunlicher ist es, dass ein 25-jähriges Mädchen mit einem Buch, dass all dies genauso unterhaltsam wie einfühlsam thematisiert, die gesellschaftlichen Tabus bricht und dann auch noch Erfolg hat.

In „Die Girls von Riad“ erzählt die Zahnmedizin-Studentin Rajaa Alsanea von jungen saudischen Mädchen, die von Markenklamotten über kostspielige Reisen bis hin zu den allerneuesten Handys alle möglichen Insignien moderner Freiheit besitzen, die Freiheit selbst aber nicht. Vor allem nicht die Freiheit, zu lieben und zu heiraten, wen sie wollen.

Der Roman, an dem sie seit dem 18. Lebensjahr schrieb, der zunächst im eigenen Land verboten war und nach der Erstveröffentlichung im stets liberaleren Libanon doch noch in Saudi-Arabien verlegt wurde, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst aufgrund seiner Brisanz und seines Mutes: Alsanea schreibt von Frauen, die sich zwischen der Trauung und der Hochzeit ihrem Mann hingegeben haben und daraufhin verlassen und als „frivol“ geächtet wurden. Von Geschiedenen mit Kind, die von den Eltern noch wie zur zusätzlichen Strafe zu Hause eingesperrt werden, während der Ex-Mann sich unbehelligt weiter öffentlich bewegen und leicht wieder heiraten kann. Von der Liebe zwischen Sunniten und Schiiten und der zwischen Angehörigen verschiedener Klassen - beide von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Von der Zerrissenheit einer Halb-Amerikanerin, die trotz wachsendem Bewusstseins aufgrund der familiären Situation der patriarchalen Gesellschaft nicht einfach entfliehen kann. „Irgendwer musste ja den Anfang machen“, hat die Autorin selbst einmal eher schüchtern in einem Interview gesagt.

Es mag sein, dass dieses Thema ohnehin gegärt hat – der richtige Zeitpunkt für einen Ausbruch war es dennoch noch nicht. Das lässt sich auch an den Reaktionen auf das Buch ablesen: Hass und Verachtung oder Zustimmung und Bewunderung – dazwischen gibt es nichts. Dann ist da die Form: Als Art moderner Brief-Roman berichtet eine namenlose auktoriale Erzählerin jeden Freitag in einer E-Mail vom Schicksal der vier Freundinnen Kamra, Michelle, Sadim und Lamis in Riad. Doch nicht nur, dass wie in einer Soap Opera Geschichten erzählt werden, die nebenbei locker auch noch die Charaktereigenschaften und persönlichen Gedanken jeder einzelnen Heldin wunderbar herausarbeiten. Jeder Mail geht als „Mini-Prolog“ auch noch ein Zitat oder ein Aphorismus eines Dichters oder Kulturschaffenden, zumeist aus dem arabischen Raum, voraus und bindet auf diese leichte Art Kulturgeschichte und Ost-West-Beziehungen mit ein. Und vor jeder Mail berichtet die Erzählerin auch über ihr Leben und die Reaktionen auf ihren ungewöhnlichen Newsletter, womit schon all das an öffentlichen Konflikten vorweggenommen und thematisiert ist, was auch in der Realität Rajaa Alsanea empfing. Experten reden von den „Girls von Riad“ als das meistdiskutierte Buch in der arabischen Welt aller Zeiten.

Bis jetzt erreichte Alsanea nur der virtuelle Rummel – von Morddrohungen bis zu Heiratsanträgen per E-Mail -, da sie noch bis Anfang 2008 in den USA studiert. Man kann ihr nur wünschen, dass sie nach der Rückkehr in ihr Heimatland auch mit den realen Angriffen umgehen kann. Und Saudi-Arabien kann man wünschen, dass sie auch wirklich nächstes Jahr zurückkehrt. Das Land braucht Frauen wie sie. Und der „lasterhafte Westen“ Bücher wie dieses – allerdings bitte das nächste Mal nicht mehr in so einer sich der mädchenhaften „Chic Lit“ anbiedernden Covergestaltung.


Rajaa Alsaneas „Die Girls von Riad“ in der Übersetzung von Doris Kilias ist im Pendo Verlag erschienen, hat 332 Seiten und kostet 19,90 Euro.

Weichenstellungen: Der Ausverkauf der Deutschen Bahn AG. Ein Film kämpft gegen die Privatisierung

Die Deutsche Bahn ist immer gut für einen schlechten Witz. Und klar, wer hat sich nicht schon geärgert über verspätete Züge? Für viele erscheint da eine Privatisierung die rettende Idee: Der Bund verkauft seine Bahn, macht dabei Gewinn – und alles wird schlagartig besser, weil mehr Wettbewerb die Serviceorientierung fördert. Post und Telekom wurden ja auch schon recycelt – mäßig erfolgreich, aber wir Bürger/innen sind auf sie angewiesen. Beim Prestigeobjekt Bahn AG steckt noch viel mehr dahinter: "Bahn unterm Hammer" von Herdolor Lorenz und Leslie Franke zeigt, dass das Schienennetzwerk als Infrastruktur für Investoren besonders interessant ist. Dass das Unternehmenskapital der Bahn AG in Wirklichkeit viel höher ist als offiziell veranschlagt, weil Zuschüsse aus öffentlicher Hand in den Bilanzen nicht auftauchen und daher ein Verkauf "für einen Appel und ein Ei" stattfinden würde. Dass die Bahn bereits heftig auf Privatisierungskurs ist, weil sie jährlich 500 unlukrative Schienenkilometer vom Netz nimmt, marode Gleise kaum noch wartet und 30 bis 50 Bahnhöfe schließt. Nicht der Kunde ist König, sondern das Geld.

Zu heiß fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen?

Eigentlich war "Bahn unterm Hammer" als Fernsehdokumentation für den NDR geplant. Der Sender hatte, wie bereits zuvor für einen Film über die Privatisierung der Trinkwasserversorgung, die Hälfte des Geldes für den Film zugesagt. Dann aber erntete der Wasser-Film Kritik von Seiten der Wirtschaft – und der NDR zog die Finanzierung wieder zurück. Somit gab es auch kein Geld mehr von der Filmförderung Schleswig-Holstein, zuständig für die übrige Hälfte. Denn die Vergabe von Fördergeldern ist an eine Beteiligung eines Senders gebunden. Da Leslie Franke den Film unbedingt fertig stellen wollte, beschloss sie kurzerhand nach einem Vorbild aus den USA, die 60.000 Euro für die Realisierung des Films "von unten", durch Spenden, zusammenzubekommen. Die Spendenhöhe differenzierte; ab 20 Euro gab's eine DVD. Das hat geklappt, denn jetzt ist der Film fertig.


Manipulation durch Montage

Zuschauerfreundlich ist der Konsum des Films nicht, hin und her gesprungen wird zwischen Menschen und Orten im In- und Ausland sowie zwischen den einzelnen Aspekten zum Thema Privatisierung. Gerade begleiten wir auf der letzten Fahrt einen Intercity auf der Strecke Nürnberg-Dresden, die Ende 2006 eingestellt wurde. "Nie mehr Fernverkehr!", singen da junge Aktivisten von Pro Bahn e.V. Schnitt, kontrastiert wird diese Szene dann mit der Eröffnung der ICE-Strecke München-Nürnberg, die die beiden Metropolen bei durchschnittlich 290 km/h um 40 Minuten schneller verbindet als zuvor – und die mehr gekostet hat, als ursprünglich veranschlagt wurde. Plötzlich ein Sprung nach Großbritannien, wo uns erklärt wird, was die Privatisierung der Bahn 1995 dort alles für Schäden angerichtet hat.

Nächste Stationen sind etwa die zahlreichen Regionen, in denen bereits sowohl Personen- als auch Gütertransport teilweise privatisiert wurden. Hier funktionieren die Neuerungen mal gut, siehe die Usedomer Bäder-Bahn, mal schlecht, siehe volle Autobahnen, auf die der nicht so rentable Stückgutverkehr ausgelagert wird. Schwupps, sind wir in der Schweiz, hier klappt alles super mit der Bahn – aber die Schweiz ist neunmal kleiner als Deutschland; im Alpenland hat das Volk per Referendum selbst für den Erhalt der Bahn in öffentlicher Hand entschieden.

Bimmelbahn und Pendlereinsamkeit

Man sehnt sich nach einem roten Faden, am besten in Form einer kommentierenden Stimme. Dass so viele verschiedene Verkehrsexperten und Promis wie Thilo Sarrazin, Finanzsenator von Berlin, Frank Bsirske, Ver.di-Vorstand, Jürgen Peters, IG-Metall-Vorsitzender, oder Oskar Lafontaine auftauchen, soll die Sache authentischer und wichtiger machen, verwirrt aber. Wo sind die Interviews mit Langstrecken-Berufspendlern, mit Vertretern der Bahn-Tochterunternehmen oder mit Mehdorn und dem Bahn-Management selbst?


Kritisieren lässt sich viel am Film: Am Anfang etwa wird, noch bevor ein Wort gesprochen wurde, eine Szene am Berliner neuen Hauptbahnhof mit einer Anzeigetafel "der ICE hat 25 Minuten Verspätung" mit Werbeplakaten eines Telefonanbieters gegengeschnitten, auf denen zu lesen ist: "Wann waren Sie zuletzt pünktlich zu Hause?" Und ob der DB-Mitarbeiter, der am Schalter in Kassel-Witzenhausen von einem Kunden in ein Gespräch verwickelt wurde und sich dabei zu der Aussage: "Das ist so bei uns: Erst wird tapeziert und angestrichen; und dann wird alles abgerissen" hinreißen ließ, vorher informiert wurde, dass er als Zeuge der Anklage in einem Dokumentarfilm auftritt? Ein Kreisabgeordneter der oppositionellen GRÜNEN dagegen gibt natürlich gerne ein Statement ab, den muss man wahrscheinlich nicht lange fragen.

Wenn der Vorwurf lautete, der NDR habe sich von der Wirtschaft unter Druck setzen lassen, die Finanzierung von "Bahn unterm Hammer" zurückzuziehen, so kann dieser Vorwurf auch umgekehrt gelten: Die Macher/innen des Films sind zu nah dran an den Tendenzen der Antiglobalisierungsorganisationen. Ein wenig bedenklich, dass der Film von Robin Wood mitfinanziert wurde und ein Vertreter der Organisation dann seine dreiminütige Plattform bekommt, um das Thema Klimaschutz und CO²-Ausstoß auch noch zu verhandeln.

Das Dilemma der Wirtschaftlichkeit

Der NDR hat gut daran getan, die Finanzierung dieses Films zurückzuziehen. Sicherlich hat er als öffentlich-rechtlicher Sender die Pflicht, zu informieren und aufzuklären. Aber gerade, weil der NDR ebenfalls eine von den Steuerzahlern/innen finanzierte Institution ist, wird er sich wohl kaum dem Angriff aussetzen, in einseitiger Sicht von den Problemen eines Unternehmens zu berichten, um von den eigenen abzulenken. Denn zufällig beschäftigen das öffentlich-rechtliche Fernsehen genau die gleichen Fragen wie die Deutsche Bahn: Grundversorgung oder Profitmaximierung? Gutes Betriebsklima oder Stellenabbau für mehr Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb? Gründung von Sub-Unternehmen oder Einkauf der Leistung von außen?

Trotzdem ist der Film wichtig. Erstens, weil er sein Ziel, die Privatisierung der Bahn in Frage zu stellen, erfüllt. Und zweitens, weil er einen Weg zeigt, wie die vermeintlich politikverdrossenen und geizigen Deutschen sich doch einer Mitbestimmung von unten öffnen – wenn es schon kein Referendum über die Zukunft der Bahn geben kann wie in der Schweiz.



"Bahn unterm Hammer - Unternehmen Zukunft oder Crashfahrt auf den Prellbock?" von Herdolor Lorenz und Leslie Franke ist circa 75 Minuten lang, wird gerade mit Hilfe von attac in vielen Großstädten in die Kinos gebracht oder kann über die Produktionsfirma unter www.kernfilm.de bezogen werden.

Aufgelesen: elif shafak: der bastard von istanbul

Alle lieben Orhan Pamuk. Und den Nobelpreis für Literatur an ihn letztes Jahr – das fanden alle sehr cool. Die Türkei, ja natürlich, das musste einfach sein. Es wäre jetzt vielleicht ein bisschen gewagt zu behaupten, dass diese Entscheidung des Stockholmer Komitees nur auf political correctness beruhte. Jedoch macht es in Zeiten, in denen Europa die Verhandlungen mit der Türkei um einen möglichen EU-Beitritt beginnt, doch etwas nachdenklich. Ohne Frage: Orhan Pamuk ist mutig. Und er ist wichtig für sein Land und dessen Literatur. Unter anderem hat er die Armenien-Frage aufs Tapet gebracht und ist dafür angeklagt worden. Die Klage wurde fallen gelassen. Den Journalisten Hrant Dink traf es da härter: Er saß wegen Verstoßes gegen den Artikel 301 „Beleidigung des Türkentums“ sechs Monate im Gefängnis. Und wurde im Januar von national-fundamentalistischen Fanatikern auf offener Straße in Istanbul umgebracht.
Doch es gibt noch andere mutige, politisch aktive, türkische SchriftstellerInnen. Jemand, der gerade vielleicht noch mutiger und aggressiver ist als Pamuk, ist die 1971 geborene Elik Shafak. Letztes Jahr wurde auch sie wegen „Beleidigung des Türkentums“ - einem sehr jungen, gerade mal zweieinhalb Jahre alten Paragrafen übrigens - angeklagt. Und nicht aufgrund einer persönlichen Äußerung wohlgemerkt, sondern weil sie die Vertreibungen, Schikanen und den Völkermord an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 zum Thema ihres neues Buches „Der Bastard von Istanbul“ gemacht hat. Sehr explizit hat sie dabei gleich an mehreren Stellen einer ihrer Romanfiguren die Wörter „Völkermord“ und „Genozid“ in den Mund gelegt. Der britische „Guardian“ geht sogar davon aus, dass Shafaks sechster Roman und der zweite, den sie komplett in englischer Sprache schrieb, der erste ist, der sich explizit mit diesem dunklen Kapitel der türkischen Geschichte auseinandersetzt. Es grenzt also schon an ein Wunder, dass Shafak nach langem Hin und Her freigesprochen wurde. Vor allem, wenn man nicht nur die Thematisierung der Armenier-Frage kritisch betrachtet, sondern das gesamte Bild, das die in der Türkei geborene, in Spanien aufgewachsene und nun zum größten Teil in den USA lebende Autorin da von der modernen Türkei zeichnet.

Im Mittelpunkt stehen zwei junge Frauen; Cousinen, die 19 Jahre nichts voneinander wussten: die aus einer amerikanisch-armenischen Bindung stammende Armanoush und die in Istanbul aufwachsende Asya. Beide verspüren das Bedürfnis, die (Familien-)Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären. Armanoush, um endlich ihren Frieden mit der Türkei und den Türken machen zu können. Asya, um endlich ihre komplett durchgedrehte, frauendominierte Familie zu verstehen, ihren seit der Geburt abwesenden Vater und letztendlich sich selbst zu finden. Als Armanoush auf eigene Faust nach Istanbul reist und sich mit Asya auf Spurensuche begibt, offenbart sich mehr und mehr, dass die beiden Mädchen sich sogar sehr viel näher sind, als sie je zu denken gewagt hätten. Was auch die anderen Familienmitglieder gewaltig in (Gedanken-)Bewegung versetzt – hin zu einem recht überraschenden Ende.
Der Begriff und das Bild des „Bastards“ ist in dieser Hinsicht auch mehrdeutig zu verstehen. Der „Bastard“ ist in der Gegenwart Asya, das uneheliche Kind einer stets unangepassten, zu weltlichen Türkin. Doch auch in der Erzählebene, die in der Vergangenheit spielt, gibt es einen „Bastard“: einen armenischen Jungen, der früh von seiner Familie getrennt wird und dann bei einer türkischen Familie aufwächst, „türkifiziert“ wird. Der „Bastard“ äußert sich aber auch, je nach Betrachtungsweise, in Gestalt der westlichen, amerikanischen Popkultur oder des restriktiven Islams, der den türkischen Künstlern und Intellektuellen die Luft zum Atmen nimmt. Und natürlich ist der „Bastard“ als kollektiver Feind einmal „der“ Armenier, vor allem der Armenier im Ausland, der nach Ansicht vieler Türken seit Generationen freiwillig in die Opferrolle schlüpft und die Vergangenheit nicht ruhen lassen will, Und einmal „der“ Türke, der mit Atatürks Gründung einer moderner Türkei 1923 die Gräueltaten des Osmanischen Reiches einfach hinter sich gelassen hat und nun in einem pseudo-modernen Verständnis arrogant die Politik seiner Republik verteidigt.
Aufgrund der Tatsache, dass die Türkei gerade gesellschaftlich einen Backlash erfährt, obwohl es andererseits noch nie so gut um die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen stand wie zurzeit, ist es also mutig und sehr wichtig, dass jemand wie Elif Shafak die Stimme erhebt und mangelnde Vergangenheitsbewältigung anklagt. Doch ebenso erstaunlich und mutig ist ihre literarische Anklage in Sachen Zukunftsgewandtheit. Da lässt sie ihre saufenden Dichter und Künstler im Buch etwa sagen: „Tag für Tag schwelgen wir in Ennui. Warum? Weil wir uns aus Angst vor einer traumatischen Begegnung mit unserer Kultur nicht aus diesem Kaninchenbau hinaustrauen. Westliche Politiker vermuten eine kulturelle Kluft zwischen der östlichen und der westlichen Zivilisation. Die eigentliche zivilisatorische Kluft besteht zwischen den Türken und den Türken. (…) Auf der einen Seite stehen die westlichen Modernisten, die auf das von ihnen errichtete Regime so stolz sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Armee und die Hälfte des Staates hinter sich. Auf der anderen Seite stehen die Traditionalisten, die so sehr in die osmanische Vergangenheit vernarrt sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Öffentlichkeit und die andere Hälfte des Staates hinter sich. Was bleibt da noch für uns?“ – Nicht nur für die Türkei, auch für den Westen bleibt da, Shafaks Stimme ernst zu nehmen, und den literarischen Mahnungen nicht nur Handlungen in Form der Vergabe von Literaturpreisen folgen zu lassen.


„Der Bastard von Istanbul“ von Elif Shafak in der Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller ist bei Eichborn erschienen, hat 459 Seiten und kostet 22,90 €. Dieser Text erschien zuerst in der Aprilausgabe des STADTKIND hannovermagazin.

Enthusiastic about Europe at the Bavarian Parliament

Last weekend, 87 young people aged between 16 and 22 from all over Bavaria came together at the Bavarian Parliament for a Youth Parliament to discuss the enlargement of the European Union and to adopt a common Resolution. The topics that also formed the boards were: European Identity, Institutional Questions, the Corporate Security and Foreign Policy, Labour Market and Social Policy, Economic Policy.

Jugendparlament3_normalIt is quite ironic that the normally conservative dominated Bavarian Parliament was taken this weekend by more left-wing orientated young people who showed several views and approaches towards Europe that really differ in a refreshing way from political views that are normally disposed at the “Maximilianum” or enter common sense solutions in Bavaria in general. As President of the Parliament the young delegates voted for the red-haired, dreadlock-apparelled 18-year old Stella Schmid who lives an alternative lifestyle in Munich and just left her community in an ex-squatted house to live with her parents again for she wants to finish school and therefore needs a “less hectic” atmosphere as she said. “I just wanted to try if I can do that”, she explained about her reasons for applying for the Youth Parliament. “I’m more the one who throws stones at the police and organises demonstrations and sits everywhere busy discussing human rights. I’m not very familiar with the official means and habits of politics and policy-making, but it attracted me. Already being able to walk around bare-footed in the ‘holy halls’ here after the Session is really something! It’s so difficult in Munich to live an alternative lifestyle. If you look different and hang out in the streets, people look at you like you have some kind of spreading disease, and sooner or later the police will carry you away. So I find it quite funny that I was able to participate and was even elected President of the Parliament!”

But Stella was not the only person striking the “normal” appearance of political life in Bavaria: As Head of the Board of European Identity a young man with Turkish background was elected. It is not only due to him and his German-Turkish friend with whom he runs the school newspaper in his hometown, that Turkey and the matter of the country’s entry into the European Union was discussed remarkably differently and relaxed. The young delegates explicitly devised in their blueprint of this part of the resolution that Turkey is culturally and historically seen no subject of discussion any more: “Europe and Turkey have been historically bound since ages. The Christian-Occidental traditions are not contradictory to Turkey’s accession, because the values and the idea of man for which the EU stands, are already also normal and basic for Turkey. Like many European states, Turkey is also a laical, social and democratic constitutional state. […] We suggest an intensified educational advertising in all European countries about Turkey, for example with a cultural or students’ exchange program. From studies and surveys we know that most people in the EU know next to nothing about Turkey. To avoid prejudices, European schools should broach this issue more.”
Jugendparlament4_normalOriginally, the blueprint of the resolution designed to set off the proceedings of the accession when Turkey is not willing to solve its problems with freedom of press, the Kurdish and Armenian questions and the acceptation of Cyprus. This suggestion was rejected by a large majority of the Youth Parliament with the justification that the EU is already helping Turkey through this process of democratisation and that the country will not be able to manage these questions once left alone.

During the Session there was also quite a lively debate on specific encouragement and aid for (working) women, quota arrangements in the job and children’s care regulated by law. So after the question of Turkey, the second remarkable thing about the Bavarian Youth Parliament’s Resolution is that most of the young delegates, especially the women among them, do not approve of these regulations by law and some don’t even see a need for them because they don’t feel discriminated against. Nevertheless they argued for a basis of standards that help avoiding and reducing discrimination against women on the job and which have the power to entail sanctions against companies.

The third remarkable fact about the Resolution can be found on the fields of the Corporate Security and Foreign Policy and Economic Policy. The delegates decided to establish a corporate EU Foreign Minister and an EU army. Further, they consider research and development more important than agriculture and therefore suggest to reduce the agricultural funding of the EU in favour of better funding for research and development which is in terms of the enlargement of the European Union more reasonable for them.

Last but not least the young Bavarians have not much faith in the existing institutions of the European Union. So they remodelled them. All in all the delegates want to strengthen the institutions: with a Parliament that has a President, with a State Chamber and with the possibility of a referendum when 3 Mio. signatures are received on a subject.

Jugendparlament3_normal1All these future politicians were surprised that they almost never had enough time to discuss and to formulate and that the knowledge in most of the topics discussed could have been larger. As I joined the second part of the Session, I personally must say that I was very impressed how serious and fast and professional the 87 young people acted. They handed the Resolution to the Representatives of the EU Commission in Germany, the European Board of the Bavarian Parliament and the President of the Bavarian Parliament. “This Resolution shall be blown in with new wind!” said Stella Schmid finally. Bavaria’s youth is more than ready for Europe: It is eager to really change things. Now it’s up to the current politicians in power to take up their declarations and suggestions. I hope that the EMYP develops the same or even a stronger spirit to push Europe forward!

The Munich Resolution (in German) can be tracked here.

Aufgelesen: Thomas Meinecke: Feldforschung

Wenn der Bauer zur Dame wird

Wenn der Bauer es beim Schach bis ins achte Feld schafft, verwandelt er sich automatisch in die zuvor geschlagene Dame und ist für weitere Züge schlagkräftiger gewappnet. Angelehnt an dieses Phänomen des Geschlechtswandels fand in Köln Ende 2006 die Ausstellung "Das achte Feld" statt, die sich mit künstlerischen Positionen zum Themenkomplex Gender (dem "sozialen" Geschlecht) und Sex (dem biologischen Geschlecht) beschäftigte. Der Münchner Schriftsteller Thomas Meinecke verweilte noch etwas länger im achten Feld und betrieb dort eine "Feldforschung".

Das soziale Geschlecht

Unter diesem Titel präsentiert er in seinem neuen Buch elf Erzählungen, die alle auf einem wahren Ereignis, einem Gerücht oder einer Beobachtung aus dem weiten Feld der Populärkultur und der Medien basieren. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass sie mit den Themen Sex, Gender und Homosexualität und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu tun haben. Es geht also vor allem um die schon über 30 Jahre alte Entdeckung, dass es nicht nur ein biologisches Geschlecht, sondern auch ein soziales, gesellschaftlich konstruiertes gibt.

Doch während sich sonst vor allem Wissenschaftler/innen in theoretischer Form an dem Thema abarbeiten, richtet Meinecke seinen literarischen Blick auf den Alltag. Viele der Geschichten wären sicherlich an uns vorbeigegangen, wenn Meinecke sie nicht zu Fundstücken mit Seltenheitswert erklärt und sie unter sein Mikroskop gelegt hätte. Dabei verdreht er die Attribute "weiblich" und "männlich" und stellt in Frage, was lange als "normal" galt: nämlich Heterosexualität.

Sich eine sexuelle Identität basteln

Ist es denn "normal", wenn der Schauspieler Richard Gere und das Model Cindy Crawford Anfang der 1990er-Jahre für 30.000 Dollar eine ganzseitige Anzeige in der London Times schalten, um zu bekennen, dass sie beide heterosexuell, monogam und "sehr miteinander verheiratet" seien? Befürchteten Gere und Crawford einen Karriereknick – weil doch mehr dran war an den Gerüchten, als die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt ahnte? Und was bedeutet das für bekennende lesbische Models oder schwule Schauspieler, wenn sich Promis als heterosexuell outen – und sich dabei Mechanismen bedienen, die die queere Community zuvor mühselig erarbeitet hat? So eine öffentliche Bekanntmachung, suggeriert Meinecke, sagt doch eher etwas darüber aus, wie sehr Gere und Crawford ihre Geschlechterrollen angenommen haben und gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen ausspielen.

CSD Berlin 2004Und wie ist das eigentlich zu verstehen, wenn Mae West Theaterstücke mit Titeln wie "Sex" oder "The Drag" veröffentlicht? Die berühmte – heterosexuelle – Hollywood-Diva der 1920er-Jahre setzte sich für Schwule und schwule Themen ein; sie nahm dafür sogar einige Wochen Gefängnis auf sich. Konstruierte Mae West so ihre eigene Geschlechterrolle – und zementierte ganz nebenbei ihre Karriere – während sie fest auf eine schwule (und teilweise lesbische) Fangemeinde bauen konnte?


Und warum ist es dann andererseits noch heute so überraschend, wenn konstruierte Identitäten auffliegen? Die Süddeutsche Zeitung berichtete im Februar 2006, dass der 25-jährige amerikanische Nachwuchsautor J.T. LeRoy eine Erfindung der unter ihrem wahren Namen wenig erfolgreichen Schriftstellerin Laura Albert war. Das Interessante daran ist, dass gerade diese Zeitung Albert davor gehörig auf den Leim gegangen war. Im jetzt-Magazin wurde nämlich ausführlich über LeRoys außergewöhnliches Leben berichtet. Als Kind einer Prostituierten war er selbst früh Stricher und hatte dann im Jahr 2000 mit dem halb-autobiografischen Roman "Sarah" einen verblüffenden Erfolg, der sogar verfilmt wurde. Die erfolgreiche Inszenierung dieser Identität wurde durch die Schauspielerin Winona Ryder untermauert, die öffentlich bekannt gab, sie treffe LeRoy regelmäßig und sei in den 25-Jährigen vernarrt, wenn nicht sogar verliebt.

Ist es also wirklich einfacher, ein hübsches, junges Mädchen zu sein? Die Geschichte von Laura Albert beweist: nein, ist es nicht. Nicht, wenn hübsch und jung normal ist. Normal ist langweilig. Für eine Karriere als Schriftsteller/in jedenfalls.

Anwalt für Geschlechterthemen

Ganz kompliziert wird es allerdings, wenn in der Erzählung "Kings & Queens" Forenuser/innen eine Bezeichnung für Frauen suchen, die über Kleidung, Verhalten und Auftreten versuchen, als Transvestiten wahrgenommen zu werden. Denn hier greift keine der gängigen Bezeichnungen mehr. Das Beste wäre wohl, diesen Typus unter dem freieren Begriff "Gender-Bender" zusammenzufassen: Leute jeglichen biologischen Geschlechts, die auf verschiedene Arten versuchen, die herkömmlichen gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechternormen zu brechen, damit Identitäten zu hinterfragen und neue zu schaffen. Ein durch und durch politischer Akt, der darauf abzielt, der Gesellschaft ihre eigene Maske vorzuhalten und die Individuen in ihrer Vielfalt zu zeigen, die die "Gesellschaft" ja letztendlich ausmacht.

"Feldforschung" ist nicht Meineckes erstes Buch, das mit so einem Sampling von Geschichten, Ideen und Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart plus eigener Phantasie arbeitet. Diese Methode ist typisch für das gesamte literarische Werk des 51-jährigen Theorie-Virtuosen. Schon mit den Romanen "Tomboy" (1998) und "Musik" (2004) hat sich Meinecke als "Gender-Bender" der Literatur und Anwalt für Geschlechterthemen erwiesen. "Feldforschung" aber ist noch besser, weil man als Leser/in elf Mal neu ansetzen kann, ins achte Feld zu springen, und das sogar teilweise in Englisch. Aber es gibt ja auch nicht nur eine Form von Lieben und Begehren: Das Leben ist ein weites, buntes Feld – eben queer.

Thomas Meinecke: Feldforschung. Suhrkamp 2006, 8.50 €

Dieser Artikel erschien zuerst am 23.01.2007 auf fluter.de.

Der “Pop-Islam“ kommt

Julia Gerlach: Zwischen Pop und Dschihad

"Jung. Männlich. Muslim." Diese drei Schlagworte reichen aus, meint die Journalistin Julia Gerlach, um im Westen Angst und Zurückhaltung zu verbreiten. Eine paradoxe Situation: Kaum jemand kennt die hier lebenden Muslime und Muslimas wirklich. Jedoch ist der Schock aufgrund der Anschläge in New York, Madrid, Istanbul und London so groß, dass sich kaum eine/r mehr die Mühe machen will, das eigene Misstrauen zu überwinden und die türkische Nachbarsfamilie oder den Studienkollegen aus dem Irak kennen zu lernen.

"Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Mai 2006 rechnet knapp die Hälfte der Befragten mit einem größeren Anschlag in der Bundesrepublik", schreibt Gerlach, "42 Prozent vermuten unter den in Deutschland lebenden Muslimen Terroristen." Das ist sozialer Sprengstoff; ein Teufelskreis, wenn wir nicht handeln, so Gerlach. Denn: "Die Angst hat reale Ursachen." Aber die Angst macht auch misstrauisch – und zieht die Ausgrenzung junger Muslime und Muslimas mit sich.

Aus beiden Welten das Beste?

Dabei bietet gerade die jetzige Generation muslimischer Jugendlicher unglaubliche Chancen für Integration und Verständigung, verdeutlicht Gerlach. Denn diese Generation geht gleichermaßen selbstverständlich mit traditionellen familiären Werten aus dem Orient um wie mit kulturellen Praktiken und Attributen einer globalisierten Popkultur aus dem Okzident. "Du kannst beides haben", zitiert Gerlach den jungen Moez Massoud, der in Kairo die Amerikanische Universität besuchte und danach ein IT-Unternehmen gründete: "Es ist genau diese Dualität, welche die islamische Welt braucht, damit sie vorankommt und ihr schlechtes Image los wird. Religiös zu sein bedeutet nicht, dass man sich von der Welt abschottet."

Denn das machen ja christliche Jugendliche auch nicht. So wie die Berichterstattung in den westlichen Medien über den Islam und die arabische Welt aber meistens verläuft, scheint es, als wären die Muslime von heute die Juden von gestern, als hätte die Angst vor dem radikalen Islamismus den Antisemitismus ersetzt. Vor allem junge Muslime und Muslimas sehen sich daher als Opfer. Es ist kein Wunder, so verdeutlicht Gerlachs Beschreibung vom Jungsein in der arabischen Welt, dass viele denken, der Westen führe Krieg gegen den Islam, während ihr Bild des Palästinakonflikts durch die einseitige Berichterstattung der arabischen Medien weiter eindimensional bleibt.

Ein frei gewählter Lebensstil

Daher lassen sich wieder mehr muslimische Jugendliche auf den Islam ein. Auf einen Islam, der ihrer Meinung nach die Welt verbessern kann und sollte. Der mit eigenen TV-Sendern und witzig-frommen TV-Serien der Freizügigkeit westlicher Fernsehsender entgegentritt. Der Stiftungen und Koran-Schulen gründet und so Unsicherheiten aus dem Weg räumt und Orientierung bietet. Und der Engagement fördert, um Vorurteile abzubauen.

"Pop-Islam" nennt die Autorin diese neue Bewegung, die mehr ist als der Spagat zwischen Tradition und Moderne: nämlich ein zunehmend frei gewählter und selbst erworbener Lebensstil. Natürlich hat die rasante Digitalisierung ihre Finger mit im Spiel: "Der Pop-Islam ist global: Egal ob die jungen Muslime in Kairo, Singapur oder Berlin zu Hause sind, sie fühlen sich zugehörig zu einer großen Gemeinschaft. Sie schauen die gleichen TV-Programme, hören die gleiche Musik und tragen ungefähr die gleiche Mode. Sie verbindet, dass sie im Koran nach dem Sinn des Lebens suchen, die moralische Dekadenz des Westens ablehnen und sich über die Nahostpolitik der USA ärgern."

Muslimische Jugendliche in Deutschland

Auch in Deutschland macht sich dieser Pop-Islam bemerkbar. Die Zusammenhänge dieser Bewegung sind allerdings global: Amr Kahled, der in einer eigenen Sendung im saudisch finanzierten Iqra-TV eine Art Mitmach-Islam predigt, und Scheich Yusuf al Qaradawi, einer der bekanntesten Islamgelehrten der arabischen Welt mit einer wöchentlichen Sendung auf Al Dschasira, sind wie überall auf der Welt auch die Stars der deutschen Pop-Muslime. Mögen ihre Wurzeln die in vielen Ländern offiziell verbotenen Muslimbrüder sein, oder bei türkisch geprägten Initiativen die vom Verfassungsschutz kritisch beäugte Organisation Milli Görüs – die meisten Jugendlichen, die Gerlach befragte, fühlen sich irgendeiner Vereinigung verpflichtet oder gründen sogar selbst eine.

Die am schnellsten wachsende neue Vereinigung sind die Lifemakers nach dem Vorbild der von Amr Khaled in Ägypten gegründeten gleichnamigen Bewegung. Die Lifemakers haben keine festen Strukturen und sind je nach lokaler Lage in jedem Land anders ausgeprägt. Die Idee dahinter ist simpel: die Welt verändern. Lifemakers Deutschland versucht das hauptsächlich durch Speisungen von Obdachlosen, betreibt aber auch in München Computerkurse für arbeitslose Jugendliche und organisiert Besuchsdienste für Ältere. Unter jungen Muslimen und Muslimas ist die Gruppe so populär, weil sie hier Glauben mit Handeln verbinden können und Brücken bauen helfen. "Wenn wir etwas für die Menschen tun, werden wir Wohlgefallen erlangen", beschreibt es der 19-jährige Mimoun.

Zum anderen ist Bikulturalität für die meisten ein wichtiger Faktor. Immer mehr junge Muslime und Muslimas fühlen sich auch als Deutsche und wollen das zeigen. Sie haben genau wie andere Jugendliche offene Fragen, wollen sich abgrenzen von alten Traditionen und halten diesen gleichzeitig die Treue. Diese Neuorientierung nutzen Organisationen wie die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) und die Jugendorganisationen von Milli Görüs mit ihren Angeboten, was viele Deutsche sehr kritisch sehen. Zwar distanzieren sich alle von Gerlach befragten Jugendlichen von Gewalt. Aber wie soll man von außen erkennen, ob ein Muslim nur die Moschee einer Organisation nutzt oder ob er sich bereits für den Dschihad hat "missionieren" lassen? Überall dort, wo dem Religiösen viel Platz eingeräumt wird, kann die Demokratie, die auf der Trennung von Religion und Staat beharrt, in Gefahr sein.

Mehrdeutige Positionen

Julia Gerlach findet es selber mitunter schwierig, Tendenzen in der arabischen Welt angemessen zu beurteilen – schließlich sind die Wertigkeiten oft andere als in Europa. So wäre es etwa möglich, meint sie, sich "in Glaubens- und Lebensstilfragen auf Scheich Qaradawi zu berufen und zugleich seine Befürwortung von Selbstmordattentaten gegen israelische Bürger abzulehnen" – man sollte nur unbedingt diese Differenzierung einfordern und als muslimische Jugendliche gegenüber den Deutschen deutlich machen.

Das Thema Israel, findet Gerlach, ist überhaupt eine Art Gradmesser für das Verhältnis von Islam und Gewalt. Und warnt: Wenn wir uns diesem Thema nicht ernsthaft stellen, überlassen wir das Feld selbst ernannten Propheten und Verschwörungstheoretikern – und die Jugend, auf beiden Seiten, den Missionaren. Und ebenfalls kritisch sieht die Autorin das Wiedererstarken von Religion und Vorurteilen auch auf christlicher Seite. Umso wichtiger sei es, dass der Staat seine Neutralität bewahre und ein Forum biete für das Miteinander verschiedener Lebenskonzepte.

Der ernsthafte Dialog mit dem Pop-Islam wäre ein Weg – auch wenn er bis jetzt als Jugendbewegung eine Minderheit ist. Noch. Handfeste Lösungen erwartet Gerlach allerdings von der deutschen Politik: die Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft in Deutschland, Islam-Unterricht auf Deutsch, die Berücksichtigung von Herkunftsvielfalt in Lehrplänen und eindeutige Regelungen anstatt generelles Kopftuchverbot. Genau das macht Gerlachs Buch so unglaublich interessant: Sie erkennt nicht nur eine neue Bewegung, sie setzt sich auch vielschichtig mit den Problemen auseinander und spricht ohne Scheu auch kritische Punkte an. Gleichzeitig ist ihr Buch – ergänzt durch ein umfangreiches Glossar – auch leicht verständlich.

Der Kulturkonflikt existiert nicht

Gerlachs Buch ermutigt zu Blicken über den Tellerrand. Denn, so Gerlachs Fazit: "Das Erschreckende […] ist, dass der Kulturkonflikt nur dadurch existiert, dass die Menschen an ihn glauben. Bei genauerer Betrachtung sind es weniger die kulturellen und religiösen Unterschiede, welche die Ursache für die Konflikte in und mit der islamischen Welt sind. Machtpolitik, Rohstoffverteilung und Wirtschaftsinteressen verbergen sich dahinter. Wir können es uns nicht leisten, in die Falle des Kulturkonflikts zu tappen."

Julia Gerlach: Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland (Christoph Links Verlag 2006, 16.90 €)

Dieser Artikel erschien zuerst auf fluter.de am 05.01.2007 und in etwas anderer Form auf Li-Lak.

Flughafen München. Flug nach Berlin-Schönefeld. 08.36 CET

„Ja, genau, die haben irgendein Problem mit der Mechanik. Die eine Tür geht nicht zu. Ja, genau, ich sag’s Dir! Ja, na ja. Knapp ne Stunde. Aber erst sitzte da drinnen rum und nichts geht vorwärts, schon Verspätung. Dann können wir nicht aufs Rollfeld, und jetzt das hier! Boah, und dann ist das ja so eng in dieser Maschine, und nichts zu trinken, nichts zu essen, gibt ja auch nichts bei Germanwings. Mann, hoffentlich kriegen die das bald hin, gibt’s ja nicht, ey! Schon ne halbe Stunde Verspätung. Krieg’ ich erst wieder in zwei Stunden was zu essen….“

- Mein Sitznachbar auf eben diesem Flug am Handy. Wegen den technischen Kontrollarbeiten war es erlaubt, noch mal in der Maschine vor dem Start zu telefonieren. Es war übrigens der internationale Tag des Flüchtlings.

Der "Stachel im Fleisch" – die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Im Stadtteil Hohenschönhausen im Berliner Osten steht die ehemalige zentrale Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit (Stasi).

Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden hier all jene inhaftiert, erpresst und mit teilweise schon an Folter heranreichenden Methoden verhört, die der DDR-Diktatur im Wege standen. Nach der Wiedervereinigung setzten sich ehemalige Häftlinge dafür ein, das bis dato unbekannte Gelände in eine Gedenkstätte zu verwandeln. Heute ist diese Gedenkstätte der wichtigste Erinnerungsort für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. Nicht jedoch für die Ex-Stasioffiziere. Die spielen die Verbrechen des DDR-Regimes immer noch herunter.

Der Gang ist unerwartet hell und breit. Die Wände sind kahl und zur Hälfte in einem gelbbeigen Farbton gestrichen, der Boden ist braun gehalten. Er soll wohl den Eindruck von Parkett oder wenigstens Laminat vermitteln. Freilich ist es kein bisschen heimelig. Der Gang ist lang. Endlos reiht sich rechts und links Zelle an Zelle. Alle paar Meter, spätestens an der nächsten Biegung, ein Gitter. Eine Reihe von Schaltern an jeder Zelle. Alles hier in der ehemaligen zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen sieht nicht viel anders aus als das Innere einer gewöhnlichen deutschen Justizvollzugsanstalt. Doch schon hier gibt es feine Unterschiede, auf die der ehemalige Häftling Michael Bradler uns bei seiner Führung aufmerksam macht: "Einen dieser Schalter an jeder Zelle konnten wir lange nicht zuordnen. Bis wir darauf kamen, dass der dazu da war, individuell das Licht in jeder Zelle zu regeln." Soll heißen: Die Inhaftierten wurden bei Bedarf vom Wachpersonal mit Schlafentzug durch Dauerbeleuchtung gequält. Oder es wurde mehrmals in der Nacht nachgesehen, ob man auch auf dem Rücken schläft und die Arme über der Zudecke hat. Wenn nicht, wurde man sofort geweckt. Und noch etwas fällt erst auf den zweiten Blick auf: Weiße Linien auf dem Fußboden vor jeder Zelle. Sie markieren in geheimer Botschaft, die wohl nur das Wachpersonal genau zu entziffern weiß, die Grenzen zwischen Bewachern und Bewachten, zwischen den Unterstützern des DDR-Regimes und dessen Feinden. Es konnte reine Willkür sein, ob ein Stasi-Beamter etwa beim Morgenappell ein Übertreten der Linie sah und daraus eine Strafe ableitete oder nicht. Beklemmend auch die Vorstellung, dass die Inhaftierten zu jeder Tages- und Nachtzeit, bevorzugt aber zur Nachtzeit, zu stundenlangen Verhören aus ihren Zellen geholt und in die kargen Vernehmungszimmer gebracht wurden. "Wenn Sie unter Schlafmangel leiden und nichts oder nur wenig zu essen bekommen, wenn Sie oft schon gar nicht mehr wissen, ob jetzt Tag oder Nacht ist, dann gestehen oder unterschreiben Sie irgendwann alles. Das ist systematische psychologische Zermürbung und grenzt schon an Folter", sagt Bradler.

Das Untersuchungsgefängnis - ein praktisch nicht existenter Ort

Weder die Häftlinge noch die Öffentlichkeit wussten, wo sie sich befanden und was da genau passierte. Auf den geographischen Karten der DDR war das Gelände der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen nicht verzeichnet, dabei war es nach dem Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der Normannenstraße, ebenfalls im Bezirk Lichtenberg, wo auch der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke residierte, der größte Komplex im Gebäudenetz des MfS. Der Staatssicherheitsdienst hatte das ehemalige Sperrgebiet 1951 vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst übernommen, der im Keller im alten Gebäude, "U-Boot" genannt, auch schon verhört und gefoltert hatte. Neben dem Untersuchungsgefängnis befanden sich noch zahlreiche andere MfS-Einrichtungen auf dem Gelände, etwa ein Arbeitslager, der Operativ-Technische Sektor, der zum Beispiel falsche Pässe und Abhöranlagen fertigte, die Abteilung Bewaffnung/Chemischer Dienst oder eine Einheit, die sich mit der elektronischen Spionage im Westen beschäftigte. Außerdem verfügte der Komplex über ein Krankenhaus und eine Kantine. Die Häftlinge wurden von den anderen Stasi-Untersuchungsgefängnissen (jeder Bezirk hatte eines) oder dem Ort, an dem sie aufgegriffen wurden, in unauffälligen Lieferwagen, die umgebaut waren, nach Hohenschönhausen und zurück gebracht - oft auf Umwegen, so dass sie auch nach der Haftentlassung nicht wussten, wo sie gewesen waren, noch nicht einmal eine vage Ahnung hatten, in welchem Stadtteil Berlins sie vielleicht gewesen sein könnten. "Selbst wenn man ins Krankenhaus auf dem Gelände musste", erzählt Bradler, "wurde man in so einen Wagen verfrachtet und kreuz und quer gefahren, um Orientierung unmöglich zu machen." Dabei befand sich das Krankenhaus unmittelbar neben dem Neubau mit den Zellen und Vernehmungszimmern.
Umgang mit DDR-Erbe immer noch umstritten

Nach dem Mauerbau 1961 verschärfte sich die Situation sogar noch. Inhaftiert werden konnte praktisch jeder, der Fluchtgedanken äußerte oder einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Sogar einige unbequeme SED-Kritiker aus dem Westen waren in Hohenschönhausen inhaftiert. Viele ehemalige Häftlinge sind bis heute traumatisiert von ihren Erlebnissen in Hohenschönhausen. Einige wissen bis heute nicht genau, was ihnen eigentlich genau zur Last gelegt wurde. Größtenteils fehlen die Aufzeichnungen, die darüber und vieles andere Aufschluss geben könnten, weil die Stasi-Beamten nach dem Ende der DDR bis zur Entdeckung der geheimen Bauten genug Zeit hatten, um Akten zu vernichten. Das macht es auch schwieriger, die Grausamkeiten und die Handlungswillkür des DDR-Regimes zum Thema zu machen. Am meisten wehren sich die vielen Exoffiziere dagegen, die immer noch in der Gegend rund um das ehemalige Untersuchungsgefängnis wohnen. Sie wollen, dass die Stasi als ganz normaler Geheimdienst anerkannt wird. Auch von Seiten der Regierung ist 16 Jahre nach der Wiedervereinigung der Umgang mit der DDR-Diktatur nicht eindeutig: Wohin mit den Akten? Wie sie aufbereiten und der Öffentlichkeit zugänglich machen? Wie Themen setzen? Wie erreicht man, dass das Bild der DDR im Nachhinein nicht verklärt wird? Neben der Behörde der von der Bundesregierung Beauftragten für die Stasi-Unterlagen gibt es noch eine ebenfalls von der Regierung eingesetzte Expertenkommission, die dafür sorgen soll, dass Alltag und Politik mit Hilfe staatlicher Finanzierung gleichberechtigt dargestellt werden. Mit Begriffen wie "Fürsorgediktakur" erliegt diese Expertenkommission aber selbst einer Weichzeichnung der DDR, wie Kritiker vorbringen. Auch Dr. Hubertus Knabe, Leiter der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen, sieht das kritisch. Denn er kämpft schon seit Jahren für die Anerkennung der Stasi-Verbrechen.

Kerstin Fritzsche, Goethe-Institut
zuerst erschienen im Oktober 2006 auf www.goethe.de

Interview mit Dr. Hubertus Knabe

mehr:

Adventures in Stasiland - Interview mit Anna Funder

deutsche Rezensionen zu "Stasiland"

Etiam Romae, (semper) civis bavaricus ero

The man formerly known as Kardinal Ratzinger beehrt das Bayernländle mit einem segnenden Besuch. Und diese Tatsache ist noch präsenter als die WM, auch wenn man es gar nicht für möglich hielt. Seit Wochen schon berichtet die hiesige Presse von nichts anderem mehr.
Ist das der Rhythmus, wo ich mit muss? „Wir wollten das nicht so durchstylen wie bei der Produktwerbung“, sagte vor ein paar Wochen der Sprecher des Erzbischöflichen Ordinariats Winfried Röhmel. Das ist den drei Veranstaltern des Papstbesuchs, den Diözesen München, Regensburg und Passau, auch gelungen. Eine gute Entscheidung, nicht die Dienste einer Event-Agentur in Anspruch zu nehmen. Denn wie hätte das dann ausgesehen? Auch ganz ohne „professionelle“ PR von außen ist die Werbung für „Benne“ kaum dezent geworden: Geht man Geld holen, grinst einem der Papst vom offiziellen Plakatmotiv aus dem Automaten heraus an. Man kann keinen friedlichen Sonntagsspaziergang mehr machen, der nicht an einer der mehreren hundert Sparkassen-Filialen in München und Umgebung vorbeiführt, die ihre Fensterfassaden reichlich mit „Benne“ plakatiert haben. Den Werbespruch für den Papstbesuch hätte man sich auch sparen können: „Wer glaubt, ist nie allein“ – Ob man nun glaubt oder nicht, ohne IHN ist man hier in den letzten Tagen sowieso nicht. Ein Überwachungs-Hubschrauber dreht jetzt schon seine Runden über der bayrischen Hauptstadt, und die Gullydeckel wurden auch schon inklusive entsprechender Ankündigung vor Wochen versiegelt, hier und da bereits Absperrgitter deponiert. In den MVV-Mitteilungen wurde man schon freundlich informiert, dass man die Tickets für den Nahverkehr zum Papstbesuch am besten vorher kaufen sollte. Die Zeitungen überschlagen sich mit Statistiken, wie viele freiwillige Helfer die katholische Kirche einsetzt, wie viele TV-Übertragungswagen aus aller Welt wo wie Platz finden, wie viele JournalistInnen betreut werden müssen und wie professionell dies bereits im Vorfeld abläuft, dass T-Systems die ganze Technik und die Sender sponsert und dazu die Funknetze aufbaut, wie viele Polizisten wo im Einsatz sind, welche Abstufungen von Flugeinschränkungen es von Seiten des Innenministeriums gibt, wie viele Sanitäter und Feuerwehrmänner im Einsatz sein werden und wie viele Helferstunden im Vergleich zum WM-Einsatz in Bayern das alles macht.

Die ausschließlich positive Ausrichtung dieses Hypes macht mir Angst. Als käme es niemandem in den Sinn, dass man die Stadt vielleicht angesichts dieses Trubels lieber großräumig meiden sollte.
Die Krönung des Rankings ist aber die Information, wie viele von „Benne“ gesegnete Kreuzanhänger für die Katholische Jugendfürsorge verkauft werden. Von der Stadtsparkasse München. Einer öffentlichen Institution. Im Rahmen der Foto-Ausstellung „Mit den Augen des Heiligen Vaters Benedikt XVI. – was er sah, was ihn prägte“ kann jeder Besucher Wünsche für den Papst in ein Buch eintragen – und einen Kreuzanhänger kaufen.
Thomas Niederbühl von der Rosa Liste und Lydia Dietrich von Bündnis 90/Die Grünen hatten Anfang August an den Oberbürgermeister eine Anfrage gestellt, ob diese Aktion der Stadtsparkasse nicht gegen deren weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht verstoße. Oberbürgermeister Christian Ude reagierte säuerlich und machte den Anfragenden daraufhin seinerseits den Vorwurf, die katholische Kirche aus der Stadtgesellschaft ausgrenzen zu wollen und das Oberhaupt der Weltkirche zur unerwünschten Person zu erklären.

Ja, ist denn „Benne“, der frühere „Panzerkardinal“ und „Großinquisitor“, um nur zwei seiner Attribute aus der Kardinalszeit zu nennen, jetzt nur noch geachtet und nicht mehr gefürchtet? Und dürfen diejenigen, die ihn bzw. sein Umschwenken doch wenigstens merkwürdig finden, nicht mehr ihr Recht auf freie Meinungsäußerung gebrauchen?

das "richtige" Papamobil. Copyright: PixelQuelle.deAbseits dsr Sparkassen-Kreuz-Verkaufs gab es nämlich schon einen anderen Papst-Eklat im Rahmen des 27. Münchner CSDs vor vier Wochen. Die Macher vom schwullesbischen Szenemagazin „Sergej“ und die Inhaber des ehemaligen Fassbinder-Stammlokals „Deutsche Eiche“ hatte einen Wagen als Papamobil in die Parade geschickt, auf dem eine Papstpuppe mit Regenbogen-Haaren und Kondomen über den Fingern gezeigt wurde. Ein guter rechtschaffender Münchner Bürger rief die Polizei, die den Vorwurf der Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts sofort prüfte und daraufhin den Wagen aus dem Verkehr zog. Die Papamobil-Initiatoren wurden inzwischen angezeigt.
Gesellschaftskritische Anmerkungen zu Bushs Politik sind also erlaubt, wenn nicht sogar im Sinne einer Political Correctness très chic, welche zur Politik des Vatikans nicht.
Und damit keine weiteren selbst ernannten Aktivisten auf komische Ideen kommen, hat Münchens Polizeipräsident Wilhelm Schmidbauer letzte Woche schon mal vorsorglich angekündigt, wo’s am Samstag und Sonntag langgehen wird: „Wir dulden keine Beleidigungen Benedikts XVI. und werden rigoros durchgreifen.“ Da sollten sich die Leute vom „Freidenkerverband“ vielleicht schon mal warm anziehen. Die wollen zum Besuch Kondome verteilen, mit denen sie fragen „Wer verhütet, dass der Papst Aids verbreiten hilft?“ Und diejenigen, die die Weihwasserspritze als künstlerischen Protest in Regensburg in Umlauf bringen wollen, sowieso. Jeglicher Heiden-Spaß soll in Bayern unterdrückt werden.

1982 hatte Bayern Kardinal Joseph Ratzinger, den Papst Johannes Paul II. als Präfekt der Glaubenskongregation zu sich nach Rom rief, mit großem Tamtam verabschiedet. So richtig mit Pontifikalamt, Gebirgsschützen (denen Ratzinger angehört) und Fahnen und Patrona Bavariae an der Mariensäule und so. Und der damalige bayrische MP Franz-Josef Strauß hatte ihm zugerufen: „Etiam Romae, semper civis bavaricus ero“ – Einmal Bayer, immer Bayer, obwohl jetzt auch Römer. Wenn das so ist, dann wird dieser vorübergehende Eintrag „Wohnort München“ in meinem Pass wohl zu einem lebenslangen, unangenehmen Stigma für mich werden.

Oh wie schön ist doch Marktl am Inn! Copyright: PixelQuelle.deOder wie prinz_pikkolo am 06. Juli auf jetzt.de schrieb: „Wir sind Papst. Ich will aber lieber weiterhin Deutschland sein und Weltmeister werden! Daher habe ich mir ein Transparent gebastelt, mit dem ich mich (…) vor das Olympiastadion stellen werde: ‚TAUSCHE PAPST GEGEN WM-TITEL!’“ Er würde übrigens auch noch ein paar doppelte Panini-Bilder draufpacken.

Für mehr Sichtbarkeit und eine homo-freundliche Politik in München

Es war kein fulminantes Ergebnis, aber immerhin der Auftakt für ein bisher in Europa einzigartiges kommunalpolitisches Konstrukt: 1996 erlangte die 1989 gegründete lesbischschwule Wahlalternative „Rosa Liste“ in München bei der Stadtratswahl mit 1,8% der Stimmen ein Mandat und stellte Thomas Niederbühl als Stadtrat. 2002 wurde Niederbühl, Geschäftsführer der Münchner Aids-Hilfe, im Amt bestätigt. Zusammen mit zwei CSD Berlin 2004lesbischen Kolleginnen von SPD und Grünen sorgt er so seit zehn Jahren für mehr Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen in der Kommunalpolitik und ihrer Belange. „Bayern ist nicht gerade das homofreundlichste Bundesland“, gibt Niederbühl zu, „aber Gott sei Dank ist München nicht repräsentativ für Bayern, und das ist auch mit unser Verdienst.“ Dafür musste der rosa Stadtrat teilweise hart kämpfen. Peter Gauweiler (CSU) tat gleich nach der Wahl 1996 kund, was er von dem Ganzen hält: „München wird regiert von einem Schwulen und zwei Ausländern!“ Überhaupt habe die CSU sich wohl während der zehn Jahre am meisten verbiegen müssen, gerade bei Lesbenthemen, so Niederbühl. Aber im Gegensatz zum Land wird München ja nach wie vor rot regiert, mit grüner und rosa Unterstützung. Mit OB Christian Ude versteht sich die „Rosa Liste“ daher meistens gut. Ude ist Schirmherr des hiesigen CSD und führte 2000 unter Regenbogen-Beflaggung am Marienplatz zum ersten Mal die Parade an. „Mittlerweile ist der CSD in Sachen Vielfalt gerne das Aushängeschild der Stadt“, bleibt Niederbühl aber distanziert-skeptisch. Besonders stolz ist er auf zwei andere von ihm „gepushte“ Projekte: ebenfalls 1996 die Gründung des Lesbenberatungszentrums „LeTRa“ („Lesbentraum“) inklusive schrittweiser Erhöhung der Fördergelder für das Projekt, und die Gründung der Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Stadt. „Damit haben wir die städtische Verwaltung geknackt“, so Niederbühl. „Mit der Koordinierungsstelle als Institution sind seit 2002 Kontinuität und ein regelmäßiger Austausch über schwullesbische Belange gewährleistet.“
Auch „LeTRa“ hat Niederbühl zu mehr Wahrnehmung und Vernetzung verholfen. Einst ein unauffälliges Hinterhof-Dasein fristend, ist die Beratungsstelle 2000 ins Herz der Szene, ins Glockenbachviertel, und in unmittelbare Nachbarschaft zu den schwulen Einrichtungen gezogen. Drei sehr engagierte Mitarbeiterinnen teilen sich zwei Vollzeitstellen, unterstützt von vielen Ehrenamtlichen. „Die ersten Räume waren wenig sichtbar. Jetzt können wir außerdem die nötige Unauffälligkeit gewährleisten: Für nicht-oute Frauen gibt’s den Nebeneingang“, erklärt Rita Braaz, eine der drei Hauptamtlichen. Der Beratungsbedarf ist indes über die zehn Jahre trotz aller Sichtbarkeit für Lesben nicht gesunken: „Es hat sich ein bisschen geändert durch das Partnerschaftsgesetz - Verpartnern und binationale Paare sind große Themen - , ansonsten gibt’s nach wie vor die Klassiker ‚Unsicherheit mit der lesbischen Identität’, Coming-out, Akzeptanzprobleme in Familie und am Arbeitsplatz und leider auch Gewalt in Beziehungen“, so Braaz. „Wir können mit den schwulen Institutionen und der Koordinierungsstelle im Vergleich zu anderen Städten strukturell super zusammenarbeiten. Negativ aber ist, dass es dennoch viel Diskriminierung gibt und Homosexualität oft vorwiegend als männliche wahrgenommen wird.“ Aber für die nächsten zehn Jahre sollen ja auch noch Herausforderungen übrig bleiben. Zumindest bis 2008, so lange die „Rosa Liste“ noch im Rathaus vertreten ist.

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