An der Tür hängt ein Plakat zu einer Schulaufführung von „Andorra“. Ein dunkelgrüner, schwerer Vorhang hält die Wärme drinnen und die Kälte draußen. Es ist Pastawoche. Niemand isst Pasta. Ein Mann in grauer Sportjacke mit gelben Streifen sitzt in der Ecke, schreibt akribisch in sein Notizbuch und trinkt Weizen. Eine Schülerin, braune Haare, Ponyfransen im Gesicht, hält die Zigarette ganz vorne an der Spitze vorsichtig zwischen den gespreizten Fingern. Sie legt den Kopf schief und nimmt einen Zug. Die Bedienung – blonde, lange Haare, rosa Pullover, schiefes Grinsen - huscht herbei, stolpert, lässt die Flyer fallen, die ein Szeneguide gerade gebracht hat und knallt die Karte auf den Tisch. „Ich weiß schon, was ich...“ – rosa rauscht es schon wieder davon - ...will...“ Aus dem ersten Stock tönt Gelächter herunter. Die Kaffeemaschine zischt, die Lüftung brummt. In der Küche scheppert es. Die Stühle sind aus Holz und um diese Tageszeit voll mit grauen und blauen Eastpak-Rucksäcken. Zu einem gehört ein schmächtiger Junge in schwarzem Rolli, der ganz eingenommen ist von seinem weiblichen Gegenüber und nach jedem Satz Grübchen bekommt. „Flavourn Sie Ihren Cappuccino oder Latte oder Schokolade“ steht auf der perfekt einlaminierten Karte auf dem Tisch. Es gibt auch Fruit Punch und Aperol Sour und Absinth. Fast alle trinken Cola. Ein rosa Streifen - die Bedienung stolpert wieder vorbei. Neue Gäste: Ein Norwegerpulli mit Geheimratsecken in eleganter Begleitung ganz in Schwarz mit schmalen Lippen. Fünf Minuten später hat sie die Jacke immer noch an und ihre Einkaufstüte auf dem Schoß. Er lehnt sich vor und versucht, ihre Hand zu halten. Rosa flippt es über die Treppe. „Piep!“ macht die Kasse. „...zu spät“, sagt die Schmallippige und geht. Die Geheimratsecken suchen nun die andere, eigene Hand. Tracy Chapman singt im Radio „I’ve got a feeling I could be someone, be someone.“
newreads - 21. Jan, 23:30
Haruki Murakami war schon immer der Mann für die Nebenwelten des Alltags, für das undergroundig Fantastische, ab und an gepaart mit ein bisschen Science Fiction. Und meistens stehen bei ihm – so viel Credits an die eigene Biografie müssen wohl sein - alternde Männer oder Männer im mittleren Alter im Mittelpunkt, die sich vor der Welt verstecken, einsame Großstadt-Cowboys, die nach sich, einer funktionierenden Beziehung, dem nächsten Alkoholgenuss oder einfach auch nur nach dem Sinn des Lebens suchen.
Doch in allen schillernden und eher nicht so schillernden Facetten wird das erst in Murakamis Kurzgeschichten deutlich. Der von DuMont veröffentlichte Band „Blinde Weide, schlafende Frau“ soll wohl vor allem sicherstellen, dass auch wirklich jedes Jahr ein Murakami-Buch auf Deutsch erscheint und so der Erfolg des Vorzeige-Japaners nicht abreißt. Aber er ist auch als so etwas wie eine Lebenswerk-Anthologie zu verstehen, was das Können des Altmeisters in punkto Kurzgeschichten anbelangt. Hier versammelt sind nämlich 24 Erzählungen aus den Jahren 1983 bis 2005. Einiges kennt man schon bzw. ist an anderer Stelle schon veröffentlicht, beispielsweise die 2002er Geschichte „Birthday Girl“, in der eben dieses an ihrem 20. Geburtstag einen Wunsch frei hat und… na ja, das kann man nun wirklich nicht verraten. Vieles kommt einem auch nach zwei Mal Lesen noch unverständlich, surreal oder wenigstens komplett sinnlos vor. Etwa die Geschichte vom Mann, der ein Jahr tagein, tagaus Spaghetti kocht. Oder die mit den Krebsen und den Würmern im Urlaub – ich will jetzt niemandem am heimischen WG-Küchentisch den Appetit verderben. Oder die vom nierenförmigen Stein, der jeden Tag wanderte.
Und andere Geschichten packen auch die moralische Keule aus. Etwa „Der Zufallsreisende“, dieses Lehrstück über den schwulen Klavierstimmer, der durch eine emotionale Zufallsbekanntschaft wieder zu seiner Schwester findet, die just in diesem Moment die gleiche Krankheit hat wie die Bekanntschaft und seine Unterstützung braucht. Oder dass man, wie die Protagonistin in „Hanalei Bay“ auch nach dem tragischen Verlust des Sohnes noch mal das Leben umkrempeln und auf seine Art zufrieden werden kann. Manche von Murakamis tragischen Helden sind natürlich auf ewig zur Trauer verdammt – sonst wären sie ja nicht Murakamis Helden. Etwa der Mann, dessen von Mode besessene junge Frau plötzlich ums Leben kommt. Oder ein anderer, dessen Vater ihm auf den Lebensweg mitgab, dass es nur drei wahre Lieben im Leben gibt und der daraufhin verpasst, seine Liebste, eine Hochseilakrobatin, zu halten.
Doch bei allem Übel und allem Weltschmerz – für die einsamen, verlorenen Männer mittleren Alters gibt es doch noch Hoffnung, auch wenn man der Seltsamkeit aufsitzt, eine arme Tante auf dem Rücken mit sich herumzuschleppen: „Natürlich ist die ganze Welt eine Farce. Aber wer kann ihr entrinnen? Vom grellen Scheinwerferlicht eines Fernsehstudios bis zum Dämmerlicht in einer Einsiedlerklause im tiefsten Wald entspringt alles der gleichen Wurzel. Und mit meiner armen Tante auf dem Rücken war ich natürlich der größte Narr auf dieser närrischen Welt. Vielleicht wäre ich mit einem Schirmständer auf dem Rücken besser dran. Vielleicht hätte ich dann auch einen Freundeskreis. Ich könnte den Schirmständer jede zweite Woche in einer anderen Farbe streichen und zu allen Partys gehen.“
„Blinde Weide, schlafende Frau“ von Haruki Murakami ist bei Rowohlt erschienen, hat 414 Seiten und kostet 22,90 €.
newreads - 15. Jan, 10:03