Aufgelesen: elif shafak: der bastard von istanbul
Alle lieben Orhan Pamuk. Und den Nobelpreis für Literatur an ihn letztes Jahr – das fanden alle sehr cool. Die Türkei, ja natürlich, das musste einfach sein. Es wäre jetzt vielleicht ein bisschen gewagt zu behaupten, dass diese Entscheidung des Stockholmer Komitees nur auf political correctness beruhte. Jedoch macht es in Zeiten, in denen Europa die Verhandlungen mit der Türkei um einen möglichen EU-Beitritt beginnt, doch etwas nachdenklich. Ohne Frage: Orhan Pamuk ist mutig. Und er ist wichtig für sein Land und dessen Literatur. Unter anderem hat er die Armenien-Frage aufs Tapet gebracht und ist dafür angeklagt worden. Die Klage wurde fallen gelassen. Den Journalisten Hrant Dink traf es da härter: Er saß wegen Verstoßes gegen den Artikel 301 „Beleidigung des Türkentums“ sechs Monate im Gefängnis. Und wurde im Januar von national-fundamentalistischen Fanatikern auf offener Straße in Istanbul umgebracht.
Doch es gibt noch andere mutige, politisch aktive, türkische SchriftstellerInnen. Jemand, der gerade vielleicht noch mutiger und aggressiver ist als Pamuk, ist die 1971 geborene Elik Shafak. Letztes Jahr wurde auch sie wegen „Beleidigung des Türkentums“ - einem sehr jungen, gerade mal zweieinhalb Jahre alten Paragrafen übrigens - angeklagt. Und nicht aufgrund einer persönlichen Äußerung wohlgemerkt, sondern weil sie die Vertreibungen, Schikanen und den Völkermord an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 zum Thema ihres neues Buches „Der Bastard von Istanbul“ gemacht hat. Sehr explizit hat sie dabei gleich an mehreren Stellen einer ihrer Romanfiguren die Wörter „Völkermord“ und „Genozid“ in den Mund gelegt. Der britische „Guardian“ geht sogar davon aus, dass Shafaks sechster Roman und der zweite, den sie komplett in englischer Sprache schrieb, der erste ist, der sich explizit mit diesem dunklen Kapitel der türkischen Geschichte auseinandersetzt. Es grenzt also schon an ein Wunder, dass Shafak nach langem Hin und Her freigesprochen wurde. Vor allem, wenn man nicht nur die Thematisierung der Armenier-Frage kritisch betrachtet, sondern das gesamte Bild, das die in der Türkei geborene, in Spanien aufgewachsene und nun zum größten Teil in den USA lebende Autorin da von der modernen Türkei zeichnet.
Im Mittelpunkt stehen zwei junge Frauen; Cousinen, die 19 Jahre nichts voneinander wussten: die aus einer amerikanisch-armenischen Bindung stammende Armanoush und die in Istanbul aufwachsende Asya. Beide verspüren das Bedürfnis, die (Familien-)Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären. Armanoush, um endlich ihren Frieden mit der Türkei und den Türken machen zu können. Asya, um endlich ihre komplett durchgedrehte, frauendominierte Familie zu verstehen, ihren seit der Geburt abwesenden Vater und letztendlich sich selbst zu finden. Als Armanoush auf eigene Faust nach Istanbul reist und sich mit Asya auf Spurensuche begibt, offenbart sich mehr und mehr, dass die beiden Mädchen sich sogar sehr viel näher sind, als sie je zu denken gewagt hätten. Was auch die anderen Familienmitglieder gewaltig in (Gedanken-)Bewegung versetzt – hin zu einem recht überraschenden Ende.
Der Begriff und das Bild des „Bastards“ ist in dieser Hinsicht auch mehrdeutig zu verstehen. Der „Bastard“ ist in der Gegenwart Asya, das uneheliche Kind einer stets unangepassten, zu weltlichen Türkin. Doch auch in der Erzählebene, die in der Vergangenheit spielt, gibt es einen „Bastard“: einen armenischen Jungen, der früh von seiner Familie getrennt wird und dann bei einer türkischen Familie aufwächst, „türkifiziert“ wird. Der „Bastard“ äußert sich aber auch, je nach Betrachtungsweise, in Gestalt der westlichen, amerikanischen Popkultur oder des restriktiven Islams, der den türkischen Künstlern und Intellektuellen die Luft zum Atmen nimmt. Und natürlich ist der „Bastard“ als kollektiver Feind einmal „der“ Armenier, vor allem der Armenier im Ausland, der nach Ansicht vieler Türken seit Generationen freiwillig in die Opferrolle schlüpft und die Vergangenheit nicht ruhen lassen will, Und einmal „der“ Türke, der mit Atatürks Gründung einer moderner Türkei 1923 die Gräueltaten des Osmanischen Reiches einfach hinter sich gelassen hat und nun in einem pseudo-modernen Verständnis arrogant die Politik seiner Republik verteidigt.
Aufgrund der Tatsache, dass die Türkei gerade gesellschaftlich einen Backlash erfährt, obwohl es andererseits noch nie so gut um die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen stand wie zurzeit, ist es also mutig und sehr wichtig, dass jemand wie Elif Shafak die Stimme erhebt und mangelnde Vergangenheitsbewältigung anklagt. Doch ebenso erstaunlich und mutig ist ihre literarische Anklage in Sachen Zukunftsgewandtheit. Da lässt sie ihre saufenden Dichter und Künstler im Buch etwa sagen: „Tag für Tag schwelgen wir in Ennui. Warum? Weil wir uns aus Angst vor einer traumatischen Begegnung mit unserer Kultur nicht aus diesem Kaninchenbau hinaustrauen. Westliche Politiker vermuten eine kulturelle Kluft zwischen der östlichen und der westlichen Zivilisation. Die eigentliche zivilisatorische Kluft besteht zwischen den Türken und den Türken. (…) Auf der einen Seite stehen die westlichen Modernisten, die auf das von ihnen errichtete Regime so stolz sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Armee und die Hälfte des Staates hinter sich. Auf der anderen Seite stehen die Traditionalisten, die so sehr in die osmanische Vergangenheit vernarrt sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Öffentlichkeit und die andere Hälfte des Staates hinter sich. Was bleibt da noch für uns?“ – Nicht nur für die Türkei, auch für den Westen bleibt da, Shafaks Stimme ernst zu nehmen, und den literarischen Mahnungen nicht nur Handlungen in Form der Vergabe von Literaturpreisen folgen zu lassen.
„Der Bastard von Istanbul“ von Elif Shafak in der Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller ist bei Eichborn erschienen, hat 459 Seiten und kostet 22,90 €. Dieser Text erschien zuerst in der Aprilausgabe des STADTKIND hannovermagazin.
Doch es gibt noch andere mutige, politisch aktive, türkische SchriftstellerInnen. Jemand, der gerade vielleicht noch mutiger und aggressiver ist als Pamuk, ist die 1971 geborene Elik Shafak. Letztes Jahr wurde auch sie wegen „Beleidigung des Türkentums“ - einem sehr jungen, gerade mal zweieinhalb Jahre alten Paragrafen übrigens - angeklagt. Und nicht aufgrund einer persönlichen Äußerung wohlgemerkt, sondern weil sie die Vertreibungen, Schikanen und den Völkermord an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 zum Thema ihres neues Buches „Der Bastard von Istanbul“ gemacht hat. Sehr explizit hat sie dabei gleich an mehreren Stellen einer ihrer Romanfiguren die Wörter „Völkermord“ und „Genozid“ in den Mund gelegt. Der britische „Guardian“ geht sogar davon aus, dass Shafaks sechster Roman und der zweite, den sie komplett in englischer Sprache schrieb, der erste ist, der sich explizit mit diesem dunklen Kapitel der türkischen Geschichte auseinandersetzt. Es grenzt also schon an ein Wunder, dass Shafak nach langem Hin und Her freigesprochen wurde. Vor allem, wenn man nicht nur die Thematisierung der Armenier-Frage kritisch betrachtet, sondern das gesamte Bild, das die in der Türkei geborene, in Spanien aufgewachsene und nun zum größten Teil in den USA lebende Autorin da von der modernen Türkei zeichnet.
Im Mittelpunkt stehen zwei junge Frauen; Cousinen, die 19 Jahre nichts voneinander wussten: die aus einer amerikanisch-armenischen Bindung stammende Armanoush und die in Istanbul aufwachsende Asya. Beide verspüren das Bedürfnis, die (Familien-)Geheimnisse der Vergangenheit aufzuklären. Armanoush, um endlich ihren Frieden mit der Türkei und den Türken machen zu können. Asya, um endlich ihre komplett durchgedrehte, frauendominierte Familie zu verstehen, ihren seit der Geburt abwesenden Vater und letztendlich sich selbst zu finden. Als Armanoush auf eigene Faust nach Istanbul reist und sich mit Asya auf Spurensuche begibt, offenbart sich mehr und mehr, dass die beiden Mädchen sich sogar sehr viel näher sind, als sie je zu denken gewagt hätten. Was auch die anderen Familienmitglieder gewaltig in (Gedanken-)Bewegung versetzt – hin zu einem recht überraschenden Ende.
Der Begriff und das Bild des „Bastards“ ist in dieser Hinsicht auch mehrdeutig zu verstehen. Der „Bastard“ ist in der Gegenwart Asya, das uneheliche Kind einer stets unangepassten, zu weltlichen Türkin. Doch auch in der Erzählebene, die in der Vergangenheit spielt, gibt es einen „Bastard“: einen armenischen Jungen, der früh von seiner Familie getrennt wird und dann bei einer türkischen Familie aufwächst, „türkifiziert“ wird. Der „Bastard“ äußert sich aber auch, je nach Betrachtungsweise, in Gestalt der westlichen, amerikanischen Popkultur oder des restriktiven Islams, der den türkischen Künstlern und Intellektuellen die Luft zum Atmen nimmt. Und natürlich ist der „Bastard“ als kollektiver Feind einmal „der“ Armenier, vor allem der Armenier im Ausland, der nach Ansicht vieler Türken seit Generationen freiwillig in die Opferrolle schlüpft und die Vergangenheit nicht ruhen lassen will, Und einmal „der“ Türke, der mit Atatürks Gründung einer moderner Türkei 1923 die Gräueltaten des Osmanischen Reiches einfach hinter sich gelassen hat und nun in einem pseudo-modernen Verständnis arrogant die Politik seiner Republik verteidigt.
Aufgrund der Tatsache, dass die Türkei gerade gesellschaftlich einen Backlash erfährt, obwohl es andererseits noch nie so gut um die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen stand wie zurzeit, ist es also mutig und sehr wichtig, dass jemand wie Elif Shafak die Stimme erhebt und mangelnde Vergangenheitsbewältigung anklagt. Doch ebenso erstaunlich und mutig ist ihre literarische Anklage in Sachen Zukunftsgewandtheit. Da lässt sie ihre saufenden Dichter und Künstler im Buch etwa sagen: „Tag für Tag schwelgen wir in Ennui. Warum? Weil wir uns aus Angst vor einer traumatischen Begegnung mit unserer Kultur nicht aus diesem Kaninchenbau hinaustrauen. Westliche Politiker vermuten eine kulturelle Kluft zwischen der östlichen und der westlichen Zivilisation. Die eigentliche zivilisatorische Kluft besteht zwischen den Türken und den Türken. (…) Auf der einen Seite stehen die westlichen Modernisten, die auf das von ihnen errichtete Regime so stolz sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Armee und die Hälfte des Staates hinter sich. Auf der anderen Seite stehen die Traditionalisten, die so sehr in die osmanische Vergangenheit vernarrt sind, dass man kein kritisches Wort fallen lassen darf. Sie haben die Öffentlichkeit und die andere Hälfte des Staates hinter sich. Was bleibt da noch für uns?“ – Nicht nur für die Türkei, auch für den Westen bleibt da, Shafaks Stimme ernst zu nehmen, und den literarischen Mahnungen nicht nur Handlungen in Form der Vergabe von Literaturpreisen folgen zu lassen.
„Der Bastard von Istanbul“ von Elif Shafak in der Übersetzung von Juliane Gräbener-Müller ist bei Eichborn erschienen, hat 459 Seiten und kostet 22,90 €. Dieser Text erschien zuerst in der Aprilausgabe des STADTKIND hannovermagazin.
newreads - 9. Apr, 22:29